Digitaler Projektrisiko-Zwilling – Anwendung beim Neubau U5-Ost Hamburg
Großprojekte bringen ein hohes Investitionsvolumen, ein hohes Maß an Unsicherheiten sowie lange Laufzeiten mit sich. Um dem gerecht zu werden ist der Einsatz eines digitalen Projektrisiko-Zwillings von Vorteil, mit dem sich Unsicherheiten und Abhängigkeiten zwischen Kosten und Terminen transparent darstellen und analysieren lassen. Die Ergebnisse werden in Dashboards zusammengefasst. Die Hamburger Hochbahn AG hat sich entschieden ein solches Modell beim Neubau U5-Ost in Hamburg anzuwenden, um ein stringentes Kosten- und Risikomanagement für Planungs- und Ausführungsphase zu implementieren. Dadurch erfolgt auch eine zyklische Validierung des Budgets.
Im ersten Teil „Risikomanagement bei Großprojekten im Tunnelbau – Teil 1: Grundlagen und Erfolgsfaktoren“ wurde die Relevanz eines transparenten Kosten- und Risikomanagements bei großen Infrastrukturprojekten vorgestellt. Die wesentlichen Kostenbestandteile und deren Zusammensetzung und Funktion werden nochmals in Bild 1 veranschaulicht. Um Kosten und Termine erfolgreich messen und steuern zu können, ist eine nachvollziehbare Bewertung der Risiken notwendig. Probabilistische Methoden liefern im Vergleich zur Deterministik wertvolle Informationen zu Unsicherheiten und ermöglichen die Validierung des Budgets [1]. Die genannten Grundlagen aus Teil eins werden mit einem digitalen Projektrisiko-Zwilling (Projekt Risk Twin – PRT) in die Praxis umgesetzt. Im Folgenden werden die Grundlagen, der Aufbau sowie die Anwendung im Projekt U5-Ost in Hamburg erläutert.
digitalen Projektrisiko-Zwillings für
Kosten und Termine
Digitaler Zwilling (Digital Twin – DT) ist eine Darstellung eines materiellen oder immateriellen Objektes oder Prozesses aus der realen in die digitale Welt [2]. DT ist mittlerweile der Begriff bei großen Infrastrukturprojekten, da die technologischen Fortschritte in der Modellierung und Simulation die Anwendung ermöglichen. Bild 2 zeigt die Elemente eines DT für Kosten und Termine bei Infrastrukturprojekten mit den entsprechenden Schritten: die Eingabe/Systemintegration von Kosten-, Termin-, Risiko- und Budgetdaten erfolgen zu Beginn (Bild 2, 1). Im Project Risk Twin (PRT; Bild 2, 2) werden die Daten mittels Software verknüpft. Durch Simulation wird eine integrierte Kosten- und Terminrisikoanalyse unter Einbeziehung von Unsicherheiten durchgeführt. Die Analyseergebnisse werden aufbereitet und in Form von maßgeschneiderten Dashboards ausgegeben (Bild 2, 3).
Der PRT setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Bild 3 zeigt chronologisch von oben nach unten die Prozessschritte zur Erstellung eines solches Modells. Angefangen von der Basiskosten- und Basisterminplanung über die Risikoanalyse und die Maßnahmenplanung bis zur Wahl eines Ansatzes für die Vorausvalorisierung (zukünftige Preissteigerung; vgl. Bild 1).
Im unteren Teil von Bild 3 sind die Ergebnisse für Kosten und Termine dargestellt. Weiterhin wird zwischen dem Teilprozess für die Kosten im linken Teil der Grafik und dem Teilprozess für die Termine im rechten Teil der Grafik unterschieden. In der Mitte ist der Projektstrukturplan (PSP) dargestellt, der die erfassten Kostenbestandteile hierarchisch strukturiert, sodass diese individuell analysiert werden können. Bild 4 zeigt dabei exemplarisch die Einbindung der Kostenbestandteile in den PSP.
Zu Beginn des Prozesses (Bild 3) erfolgt die Ermittlung der Basiskosten und die Bewertung von Mengen- und Preisunsicherheiten [3]. Äquivalent wird ein Basisterminplan erstellt. Es wird empfohlen die Ergebnisse in einem weiteren Durchgang durch externe Experten validieren zu lassen.
Anschließend erfolgt die Risikoanalyse. Im ersten Schritt werden die konkreten Risikoszenarien identifiziert, beschrieben und hinsichtlich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit sowie Kosten- und Bauzeitauswirkung quantifiziert. Um Unsicherheiten zu berücksichtigen, erfolgt die Bewertung mittels Dreipunktschätzung (bester, erwartete und schlechtester Fall). Es werden positive (Chancen) als auch negative (Gefahren) Auswirkungen aus Sicht der beiden Vertragspartner (Auftraggeber und Auftragnehmer) betrachtet.
Verzögerungen aus eingetretenen Risiken führen in den meisten Fällen nicht nur zu einer Verschiebung der Fertigstellung des Projekts, sondern auch zu zusätzlichen Kosten. Um diese Verzögerungskosten abbilden zu können, werden im folgenden Schritt die terminlichen Risikoauswirkungen im Terminplan mit den in den Basiskosten hinterlegten zeitgebundenen Kosten verknüpft [4].
Alle Informationen werden in moderierten Workshops gewonnen, an denen das bauherrenseitige Projektteam teilnimmt. Eine Konditionierung der Teilnehmer ist im Vorfeld der Workshops notwendig. Wichtige Ziele sind die Sensibilisierung in Bezug auf das Risikomanagement und die Reduzierung des Optimism Bias (selbstüberschätzender Optimismus).
Im zweiten Schritt der Risikoanalyse wird das unbekannte Risiko, bestehend aus nicht-identifizierten und nicht-identifizierbaren Risiken betrachtet. Mittels strukturierter Fragebögen wird das Projekt anhand zahlreicher Faktoren wie Reifegrad, Komplexität, geologische Verhältnisse und Marksituation bewertet. Ergebnis ist ein projektspezifischer, prozentualer Zuschlag auf die Basiskosten, der auch die Qualität der durchgeführten Einzelrisikoanalyse berücksichtigt. Ein höherer Komplexitätsgrad und besonders ungünstige geologische Verhältnisse führen beispielsweise zu einem höheren anzusetzenden Zuschlag [5].
Zur Risikobewältigung wird die Auswirkung der Einzelrisken auf das Gesamtprojekt analysiert (z.B. Sensitivitätsanalysen, Was-wäre-wenn, kritische Pfade, etc.). Geeignete Maßnahmen zur Risikominderung können hieraus abgeleitet werden, um Kosten- und Zeitrisiken mit hoher Auswirkung zu mitigieren. Die Maßnahmen der Risikoprävention lassen sich vorab durch Simulationen quantifizieren, auf ihre Wirtschaftlichkeit hin bewerten und bilden somit eine valide Entscheidungsgrundlage [6].
Der Mittelabfluss über die gesamte Projektlaufzeit stellt die Basis für die Ermittlung der zukünftigen Preissteigerung (Vorausvalorisierung) dar. Für langlaufende Projekte muss hier aufgrund des Zinseszins-Effektes mit hohen Inflationskosten gerechnet werden, die sowohl für die Basiskosten als auch für die Risiken zu berücksichtigen sind.
Nach abschließender Simulation des gesamten Modells, werden die Ergebnisse mit Hilfe der Dashboards übersichtlich zusammengefasst.
Bild 5 zeigt die Umsetzung eines PRT für ein Tunnelbauprojekt. Die Darstellung erfolgt hier mit der Software RIAAT (Risk Administration and Analysis Tool). Im linken Teil des Bildes wird der PSP mit den Kostenbestandteilen dargestellt. Rechts davon werden die probabilistischen Ergebnisse aller Kostenbestandteile für die selektierte PSP-Ebene abgebildet. Das nächste Fenster zeigt den Terminplan mit zugewiesenen Risiken sowie die Prognose des Fertigstellungsdatums unter der Berücksichtigung von Unsicherheiten. Ganz rechts im Bild wird die Sensitivität der Einzelrisiken anhand eines Tornadodiagramms visualisiert.
Bild 6 zeigt anhand eines fiktiven Beispiels die Ergebnisse der Kostenanalyse eines Tunnels. Darauf können z. B. die prognostizierten Gesamtkosten, Kostenabfluss nach Kostenbestandteilen (Basiskosten, Risikokosten, Vorausvalorisierung), Schadensbandbreiten der Einzelrisiken und ihre Sensitivität abgelesen werden. Wie bereits in Teil eins beschrieben, kann anhand der S-Kurven (vgl. Bild 6, oben links) eine Aussage über die Robustheit des Budgets getroffen werden [7].
3 Anwendung des digitalen Risiko-Zwillings bei der U5 Ost in Hamburg
In der Freien und Hansestadt Hamburg wird derzeit die Ausführungsplanung für das Projekt U5 Ost (City-Nord bis Bramfeld), ein Teilprojekt des Projektes U5, erstellt. Der mehrjährige Bau umfasst ein Volumen von ca. 1,7 Mrd. Euro. Die vollautomatisch betriebene U-Bahn-Strecke verläuft dabei über eine Gesamtlänge von 5,8 km mit fünf Haltestellen von Bramfeld im Osten bis zur City Nord [8]. Davon werden 1,4 km in offener Bauweise errichtet, 0,4 km in oberirdischer Lage und 4,0 km im Schildvortrieb [9].
Hamburg hat sich für öffentliche Bauvorhaben, vor allem auch im Verkehrsbereich, zum Ziel gesetzt, ein Kosten- und Zeitmonitoring zu etablieren, welches es ermöglicht, Planungsmängel zu verringern und unvorhergesehene sowie unkontrollierte Kostensteigerungen bei Investitionsmaßnahmen zu vermeiden. Sie hat daher zu Beginn der 2010er Jahre Regelungen zum sog. „Kostenstabilen Bauen“ [10] etabliert. Die für die Projekte verantwortlichen Fachbehörden sollen damit in die Lage versetzt werden, Großprojekte kostenstabil und termingerecht planen und realisieren zu können. Eine übersichtliche Projektorganisation mit klaren Verantwortlichkeiten ist Teil dieser Strategie. So fungieren die Fachbehörden (für die U-Bahn: die Behörde für Verkehr und Mobilitätswende) als Bedarfsträger mit klarer politischer Verantwortung für das jeweilige Vorhaben einschließlich der Finanzierung. Sie wählen für die Planung und Durchführung des Projektes betrieblich organisierte Realisierungsträger (Baudienststellen, Landesbetriebe und öffentliche Unternehmen) aus. Diese weisen den Beteiligten eindeutige Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zu. Für die Planung und den Bau der U5 fungiert die Hamburger Hochbahn AG in diesem Rollenmodell als Realisierungs- bzw. Vorhabensträger. In der Senatskanzlei Hamburg wurde ein zentrales Baumonitoring eingeführt, das die Kosten- und Terminentwicklung von großen Bauprojekten überwacht.
Die Entscheidung darüber, welches Vorhaben zu welchen Kosten und in welchem Zeitraum durchgeführt werden soll, obliegt der Hamburger Bürgerschaft. Diese bewilligt auf Basis einer detaillierten Kostenunterlage ein Budget für die Realisierung des Projekts. Aus dieser Konstellation heraus ist es für die Bedarfsträgerseite von zentraler Bedeutung, jederzeit einen transparenten Überblick über die Termin- und Kostenentwicklung des Vorhabens zu erhalten. Dies ist besonders für große und zeitlich lang andauernde Projekte essentiell. Hierbei kommt dem Risikomanagement eine fundamentale Bedeutung zu.
Die Hochbahn wickelt das Projekt operativ in der Planung und der Bauausführung für alle Fachdisziplinen einschließlich der Systemtechnik GoA4 ab, tritt nach außen als Bauherr auf. Sie unterrichtet zyklisch und in einer standardisierten Form die Fachbehörde über den Stand des Projekts.
Die Hochbahn ging neue Wege und entschied sich aus den oben genannten Gründen im Projekt U5-Ost mit Beginn der Ausführungsplanung erstmalig ein Risikomanagement in Form eines PRT zu implementieren. Der zuvor beschriebene PRT für Kosten und Termine wird zunächst bei der Ausführung der U5-Ost und später dann auch in der Planung und Bau des Projektes U5-Mitte angewendet. Vor dem Hintergrund der anstehenden Projektaufgaben war es insbesondere im Hinblick auf Kosten und Termine notwendig, das bisherige Verfahren (Risiko-Chancen-Management und separates Kosten- und Termincontrolling) zusammenzuführen und in Teilbereichen vollständig neu aufzustellen.
Die Vorgehensweise für das Controlling, Risikomanagement und das zukünftige Berichtswesen ist in dem Projekthandbuch „Berichtswesen Kosten, Termine, Risiken“ beschrieben und verbindlich eingeführt.
In Verbindung mit einem regelmäßigen Austausch zu diesen Themen ist sichergestellt, dass auch auf Seiten der Stadt Hamburg alle wesentliche Information in einem regelmäßigen Zyklus vorliegen und die entsprechende Berichterstattung innerhalb der Behörden gewährleistet werden kann.
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Implementierung eines PRT in Verbindung mit einem transparenten Kostencontrolling vielfältige und neue Optionen in der Projektsteuerung und der Berichterstattung bietet. Insbesondere die frühzeitige Identifizierung von Risiken, die Darstellung der daraus resultierenden Auswirkungen und die Möglichkeit des frühzeitigen proaktiven Handelns sind für die Projektleitung entscheidend.
Die kontinuierliche Aktualisierung eines PRT stellt die Basis für ein gesamtheitliches Kostenmanagement, das nicht nur Unsicherheiten abbildet, sondern auch alle Projektphasen und sämtliche Kostenbestandteile (Basis-, Risiko-, und Vorausvalorisierungskosten) berücksichtigt, um ein stringentes Projektkostencontrolling sowie resiliente Gesamtkostenprognosen zu managen.
Die konsequente Trennung einer fachlich fundierten Gesamtkostenprognose mittels des PRT und Veranschlagung im Haushalt ermöglicht zusammen mit einer sicherheitsbasierten Kenngröße (Über- und Unterschreitungswahrscheinlichkeit) die Erstellung robuster Projektbudgets.
Der dritte Teil der Artikelserie „Risikomanagement bei Großprojekten im Tunnelbau“ baut auf die im Teil Eins beschriebenen Grundlagen und den in Teil Zwei vorgestellten Projektrisiko-Zwilling für die integrale Kosten- und Bauzeitanalyse auf. Es wird auf die Rolle des Risikomanagements bei anreizbasierten Projektabwicklungs- und Vertragsmodellen eingegangen. Der PRT bietet die Basis für die Entwicklung von individuellen Anreizmechanismen. Zur Findung der Zielkosten zwischen Bauherrn und Auftragnehmer wird das individuelle Gefahren- und Chancenpotenzial für beide Vertragspartner transparent ausgewiesen.