Reaktions- und Fluchtverhalten in Straßentunneln unter Berücksichtigung von Gruppeneffekten

Straßentunnel in Europa besitzen ein hohes Sicherheitsniveau. Es wird viel in die technische Ausstattung und Brandschutzmaßnahmen investiert. Kommt es in Ausnahmefällen trotzdem zu einem größeren Brandereignis, sichern Entrauchungs- und Brandschutzanlagen sowie gut beschilderte Fluchtwege das Leben der betroffenen Verkehrsteilnehmer. Dabei kommt es natürlich auch auf das „richtige“ Verhalten der Verkehrsteilnehmer an. Aber wie verhalten sich Menschen tatsächlich bei einem so extremen Ereignis?

Regelwerke wie RE-ING [1], EU-Richtlinie [3] und EABT [2] basieren bislang auf Annahmen zur durchschnittlichen Reaktionszeit und Gehgeschwindigkeit, denn individuelles menschliches Verhalten bei einem Tunnelbrand ist wenig untersucht. Kenntnisse über gruppendynamische Effekte, die in einer gemeinsamen Gefahrensituation unter betroffenen Personen wirksam werden, existieren kaum. Genau das versucht die STUVA im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) sowie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) gemeinsam mit den Forschungspartnern CSS der Uni Freiburg und Montanuniversität Leoben aus Österreich herauszufinden. Dafür wurde in einem Tunnel ein Szenario mit einem (scheinbar) brennenden LKW und viel (ungefährlichem) Rauch aufgebaut (Bild 1).

1 | Die Unfallstelle von hinten: LKW-Attrappe mit simuliertem Feuer und eine harmlose, aber bedrohlich dichte „Rauchwand“ aus Nebelmaschinen
Credit/Quelle: STUVA

1 | Die Unfallstelle von hinten: LKW-Attrappe mit simuliertem Feuer und eine harmlose, aber bedrohlich dichte „Rauchwand“ aus Nebelmaschinen
Credit/Quelle: STUVA
Der Schock für die freiwilligen Versuchsteilnehmer komm unverhofft: Wenige hundert Meter nach der Tunneleinfahrt flammen die Bremslichter der vorausfahrenden Fahrzeuge auf. Eine Rauchwand befindet sich vor der Kolonne (Bild 2). Hinter dem Rauch schemenhaft zu erkennen: ein brennender LKW und ein querstehendes Unfallauto, das die Straße versperrt!

2 | Die ersten Fahrzeuge erreichen die Unfallstelle (Standbild aus Videoaufnahme)
Credit/Quelle: STUVA

2 | Die ersten Fahrzeuge erreichen die Unfallstelle (Standbild aus Videoaufnahme)
Credit/Quelle: STUVA
Gespannt verfolgt das Forschungsteam über die zahlreichen versteckten Videokameras die Reaktionen der insgesamt 13 Personen in ihren acht PKW. Denn glücklicherweise ist das hier nur ein harmloser Versuch mit einer von fünf Probandengruppen im österreichischen „Zentrum am Berg“ der Montanuniversität Leoben. Diese Untertageanlage besteht aus einem zweiröhrigen Straßentunnel und zwei parallel geführten Eisenbahntunnelröhren sowie einem Versuchsstollen. Normalerweise werden hier Feuerwehrleute in der Brandbekämpfung ausgebildet. Im Forschungsvorhaben „Analyse des Reaktions- und Fluchtverhalten in Straßentunneln unter Berücksichtigung von Gruppeneffekten FE 15.0703/2022/ERB“ [4] soll hier erstmals ein möglichst realistisches Bild des Reaktions- und Fluchtverhalten von Menschengruppen für das Szenario Unfall mit Fahrzeugbrand in Straßentunneln gezeichnet werden. Sämtliche Probanden hatten sich freiwillig gemeldet, unterschiedliche Tunnelausstattungen zu durchfahren und anschließend zu bewerten. Dass sie stattdessen in eine solche extreme Situation geraten würden, wussten sie vorher nicht, denn das hätte die Reaktionen und somit die Untersuchungsergebnisse verfälscht.

„Wir wollen so realistische Versuchsergebnisse wie möglich“, erklärt Forschungsleiter Dipl.-Ing. Frank Leismann von der STUVA. „Daher haben wir schon bei der Freiwilligenauswahl großen Wert auf ein möglichst genaues Abbild der tatsächlichen Fahrbevölkerung gelegt.“ So wurden bewusst Personen mit unterschiedlicher Fahrerfahrung und Vorkenntnissen ausgewählt. Auch der Besetzungsgrad der Fahrzeuge entsprach soweit wie möglich dem des normalen Straßenverkehrs: Es gab einige Einzelfahrer und manche Autos waren mit Familien besetzt. Natürlich war auch der erforderliche Sicherheitsaufwand groß, Schwangere und Rollstuhlfahrer beispielsweise waren von vorneherein von der Teilnahme ausgeschlossen. Außerdem hätte der Versuch jederzeit sofort abgebrochen werden können, falls Personen durch ihr eigenes Verhalten sich oder andere gefährdet hätten. Rund um die vorbereitete Unfallstelle waren zur Sicherheit mehrere Mitarbeiter versteckt, die jederzeit hätten eingreifen können.

Offensichtlich waren alle Probanden überzeugt davon, dass es sich um ein echtes Brandereignis handelte und haben sich so verhalten, wie sie es wohl auch im Ernstfall getan hätten. Einige sind lange in ihrem Fahrzeug sitzengeblieben und haben die Lautsprecherdurchsagen ignoriert, die zur Flucht aufforderten. Andere haben das Fahrzeug zwar verlassen, aber den Wagen abgeschlossen und den Zündschlüssel mitgenommen. Manche sind zunächst weg von ihrem Fahrzeug gelaufen, dann aber wieder zurückgekehrt. Einzelne Fahrer haben sogar ihr Fahrzeug gewendet und sind wieder aus dem Tunnel gefahren.

3 | Die meisten Fahrzeuginsassen haben ihr Auto verlassen und flüchten Richtung Notausgang (Standbild aus Videoaufnahme)
Credit/Quelle: STUVA

3 | Die meisten Fahrzeuginsassen haben ihr Auto verlassen und flüchten Richtung Notausgang (Standbild aus Videoaufnahme)
Credit/Quelle: STUVA
4 | Um solche Gruppeneffekte geht es in dem Forschungsvorhaben: Das Bild zeigt Menschen in (vermeintlicher) Gefahr, die ihr Verhalten gegenseitig abstimmen (Standbild aus Videoaufnahme)
Credit/Quelle: STUVA
4 | Um solche Gruppeneffekte geht es in dem Forschungsvorhaben: Das Bild zeigt Menschen in (vermeintlicher) Gefahr, die ihr Verhalten gegenseitig abstimmen (Standbild aus Videoaufnahme)
Credit/Quelle: STUVA
Besonders interessant war für die Forscher, dass es auch zu gegenseitiger Einflussnahme zwischen den Verkehrsteilnehmern kam. Beispielsweise hat ein Versuchsteilnehmer die Insassen eines anderen Autos dazu aufgefordert, ihr Fahrzeug endlich zu verlassen und ihm zum Notausgang zu folgen (Bild 3). Vor allem solche sogenannten Gruppeneffekte wollen die Forscher näher beleuchten. Denn schon aus bisherigen Studien ist bekannt, dass Personen bestrebt sind, eine gemeinschaftlich abgesicherte Fluchtentscheidung zu treffen und dass in Extremsituationen eine gewisse Gruppendynamik existiert, die sich sowohl positiv als auch negativ auf die Entfluchtung aller im Tunnel befindlichen Personen auswirken kann (Bild 4). Diese Gruppeneffekte sind bislang aber weder ausreichend vorhersehbar, noch sind sie entsprechend quantifiziert, um über die gängigen Verfahren Eingang in die Sicherheitsbewertung zu finden. Notgedrungen werden bislang solche gruppendynamischen Effekte bei der Ermittlung von Reaktions- und Fluchtgeschwindigkeiten als Eingangswert für quantitative Risikoanalysen vernachlässigt.

Derartige soziologische und psychologische Effekte können nur durch realitätsnahe Versuche und nicht durch theoretische Ansätze ermittelt werden. Während realer Ereignisse in Tunneln hat die Sicherheit der betroffenen Verkehrsteilnehmer absolute Priorität, und es besteht keinerlei Spielraum für wissenschaftliche Untersuchungen. Aus rechtlichen Gründen sind selbst Videoaufzeichnungen von realen Ereignissen kaum zugänglich. Aufgrund der jeweils zufällig im Einzelfall eintretenden Randbedingungen ist darüber hinaus keine Vergleichbarkeit mit anderen Ereignissen gegeben, so dass im Nachhinein nur eine eingeschränkte Auswertung der Gruppendynamik möglich wäre.

Die Versuchsauswertung zielt zum einen auf soziologische Komponenten ab, um beobachtete Verhaltensweisen möglichst exakt zu verstehen. Zum anderen werden aus ingenieurtechnischer Sicht relevante Entfluchtungsparameter (insbesondere Reaktions- und Fluchtzeiten) bestimmt. Anhand der gewonnenen Daten soll dann bewertet werden, ob eine weitere Fortschreibung des Verfahrens zur Sicherheitsbewertung von Straßentunneln und dem dafür angewandten risikoanalytischen Bewertungsverfahren erforderlich sind. Ferner ist es Ziel des Forschungsvorhabens, anhand der gewonnenen Ergebnisse zu überprüfen, ob bestehende Regelwerksvorgaben ausreichend gestaltet oder anzupassen sind. Darüber hinaus werden jene Aspekte herausgestellt, bei denen kurz- und mittelfristig Forschungs-, Entwicklungs- oder Anpassungsbedarf und insbesondere Informations- und Schulungsbedarf zum richtigen Verhalten in Tunneln besteht. Die Auswertung der zahlreichen Videoaufnahmen und der nach dem Versuch durchgeführten Probandeninterviews wird noch einige Monate in Anspruch nehmen. Erste Auswertungen wurden im Rahmen des 10. BASt-Tunnelsymposiums am 5.November 2024 in Bergisch Gladbach vorgetragen.

Tipps für das Verhalten bei einem Brand im Tunnel oder in sonstigen Notsituationen gibt es vom Fernstraßenbundesamt im Rahmen der vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr initiierten Kampagne #MehrAchtung unter www.mehrachtung.de/stau-unfall-feuer-im-tunnel.

References/Literatur
[1] Richtlinien für den Entwurf, die konstruktive Ausbildung und Ausstattung von Ingenieurbauten (RE-ING), 2023
[2] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen – Arbeitsgruppe Verkehrsmanagement, Empfehlungen für die Ausstattung und den Betrieb von Straßentunneln mit einer Planungsgeschwindigkeit von 80 km/h oder 100 km/h (EABT-80/100), 2019
[3] EU-Kommission, Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über Mindestanforderungen für die Sicherheit von Tunneln im transeuropäischen Straßennetz, 2004
[4] Thienert, C., Leismann, F., Kaufmann, F., Jenki, M., Stühler, D., Galler, R., Wenighofer, R. (2024), Analyse des Reaktions- und Fluchtverhalten in Straßentunneln unter Berücksichtigung von Gruppeneffekten FE 15.0703/2022/ERB 1. Zwischenbericht – 24.05.2024
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